Wanderung, Riesenrad & Zug nach Armenien

Sonntag, 23.09.2024

Gestern über 10 Kilometer gelaufen und über 1700 Wörter geschrieben. Heute lassen wir es ruhiger angehen. Denke ich. Unser Tag beginnt also entspannt, mit einem Besuch in dem kleinen Café mit dem klangvollen Namen ANXIOUS & TIRED, in dem ich gestern schon war. Vor dem Eingang liegt eine Katze faul auf einem Tisch und signalisiert, dass hier Ruhe herrscht. Stimmt. Bis auf den Lkw-Fahrer, der Kaffee trinkend und Videos schauend in der Einfahrt parkt, ist es trotz Straße sehr angenehm. Wir frühstücken und ich lese mein Buch, während Ortwin sich weiter das Internet aneignet.

Nach einem Stündchen gehen wir weiter und wollen durch eine Fußgängerunterführung, um weiter zur Seilbahn des Tages zu kommen. Erst riecht es komisch, dann sehen wir schwarzen Rauch, dann das:

Die Unterführung ist voller Müll und der steht in Flammen. Somit planen wir wohl um schauen wir uns doch mal die georgische Feuerwehr an. Es dauert etwas und das Feuerwehrauto rast im ersten Anlauf am Brand und den winkenden Menschen um uns vorbei. Dann kommt das Löschfahrzeug doch noch an und der Brand (hauptsächlich Müll) ist recht schnell gelöscht. Ortwin hat zwischenzeitlich einen geeigneten Bus vom Spektakel aus gefunden und damit geht es weiter.

Der Bus bietet uns direkt noch eine kleine Stadtrundfahrt. Der Heroes Square in Tbilisi erinnert an die gefallenen georgischen Soldaten, die in verschiedenen Kriegen, insbesondere im Georgisch-Abchasischen Krieg, ihr Leben ließen. In der Mitte des Platzes steht ein beeindruckendes Denkmal aus ineinander verschlungenen Stahlstäben.

Wir kommen an der kleinen Seilbahn an und erblicken direkt daneben wieder eine groß beworbene Zipline. Hoch mit der Gondel, runter mit der Schwerkraft? Der Plan steht.

Die Gondel kostet keinen Euro pro Person; wo einst Fenster waren, herrscht inzwischen Durchzug und die Anlage arbeitet nach dem Prinzip einer Standseilbahn. Soll heißen, wenn eine Gondel herunterfährt, gleitet die andere zwangsläufig parallel rauf. Scheint eine einfachere Konstruktion zu sein, als mehrere Gondeln im Dauerbetrieb zu haben. Sie hat auch merklich schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel, doch der Blick auf die Stadt von oben ist unvergleichlich. Von den historischen Vierteln bis zu den modernen Hochhäusern. Hier merken wir wieder, wie groß die Stadt ist.

Oben angekommen, stellen wir fest, dass die Zipline nicht wie im Internet angekündigt 50 Lari kostet, sondern das doppelte. Parallel werden wir von zwei freundlichen, aber bestimmt fragenden Menschen aufgehalten und Ortwin um seinen Reisepass gebeten. Zivilpolizisten. Spannend. Was wir machen? Na, wir sind Touristen. Warum wir die Seilbahn so ausgiebig fotografiert haben? Na, weil wir alte Technik spannend finden. Ob wir vorhaben, hier oben Drogen zu konsumieren? Nein. Der Weißwein gestern hat gereicht. Sie sind irgendwann zufrieden und ziehen ab. Interessante Erfahrung.
Wir beschließen statt zu ziplinen (sagt man das so?) den viel bequemeren Wanderweg zum bereits vor zwei Tagen besuchten Mtatsminda Park zu nehmen. Rund fünf Kilometer am Turtle Lake vorbei und mit Ziel Achterbahn und Riesenrad scheint eine willkommene Abwechslung.
Also los.

Der Weg ist teils auf massivem Stein, Schotter und teils matschig, aber einigermaßen gut beschildert. Wir stapfen stumm dahin und legen einige Höhenmeter zurück, wechseln uns mit der Pole Position ab und einigen uns darauf, das Gelbe Trikot zu teilen. Traurig ist der viele Müll. Irgendwann erreichen wir den Kamm und Gipfel, hier ist den Schildern nach alles videoüberwacht wir nehmen dennoch in der Hütte Platz und rasten. Eine geteilte Kaki und Flasche Wasser später setzen wir die Tour de Riesenrad fort. Die Aussicht hier ist schon toll, wie gut muss sie erst für Geld aus einem riesengroßen, runden Metallgestell heraus werden? Und dann ist im Park auch noch eine Achterbahn. 50 % von uns freuen sich darauf bereits seit Wochen.

Ein GTAesker Motorradfahrer düst an uns vorbei den Berg runter und rauf. Wir sind da gelassener. In der Ferne höre ich schon Geschrei und das Rattern der Achterbahn. Es gibt interessante Gewächse, Ortwin entdeckt sogar einen mutmaßlich bekannten Pilz, einen Parasol. Trotz Wegweisern landen wir irgendwann an einer Stelle, von der aus wir zwar den Park sehen, aber nicht erreichen können. Mist. Noch ein Aufstieg. Meine Uhr sagt, wir sind schon weit über die fünf Kilometer Wanderung hinaus. Jetzt darf ich mir nichts anmerken lassen. Wir schlagen uns durch einen schmalen Pfad und mit Blick auf die Satellitenkarte zu einem Versorgungsweg durch. Erreichen den Park über einen Teil, der vermutlich nicht für den Besuchsverkehr ausgelegt ist. Dafür stehen spannende Dinge herum:

Im Park gelangen wir dann schlussendlich nach sieben Kilometern Wanderung am Ziel an: der Achterbahn. Sogar Ortwin beschließt mitzufahren und ich bin stolz auf ihn. In der Bahn sitzend, Nervenkitzel pur. Mein Haltebügel schließt nicht so wie Ortwins. Muss das so? Der Achterbahnmensch rüttelte und nickt prüfend. Na, was soll schon schiefgehen? Aufwärts, abwärts, Looping, Korkenzieher. Es ist viel zu schnell vorbei. Aber heute ist nicht viel Betrieb, wir mussten schon über zehn Minuten warten, bis es losging. Dann eben auf zur nächsten Attraktion. Ach Mist, dafür müssen wir die Guthabenkarte des Parks erst wieder aufladen. Also teilen wir uns auf. Ortwin geht zum Riesenrad und erkundet den Preis pro Fahrt, ich laufe zum Eingang und tausche Bargeld gegen Bits auf der Mtatsminda Park Plastikkarte. Bevor ich zum Riesenrad laufe, fahre ich eine Runde Geisterbahn. Seit der tollen Hörspielreihe „Ghostsitter“ von Tommy Krappweis versuche ich jede Geisterbahn, immer und überall mitzunehmen. Eventuell erwische ich ja auch mal eine mit echten Gespenstern.

Am Abend sitzen wir mit zwei Bekannten aus Berlin in einer Fußballkneipe bei georgischem Weißwein (gute Wahl) und nicht georgischem Bier (gute Wahl!) zusammen und verfolgen um 20 Uhr Ortszeit (18 Uhr MESZ) die Hochrechnungen der Wahlen in Brandenburg. Bisher habe ich den Urlaub für mediale Abwesenheit genutzt; heute mache ich eine Ausnahme. Dann wird es Zeit, unser Gepäck am Hostel einzusammeln und den Weg zum Bahnhof anzutreten. Etwa traurig bin ich schon, als wir um 22 Uhr einen der typischen Kleinbusse heranwinken. Wir konnten nicht mal zum Abschied ein frisch in PET-Flaschen gezapftes Staropramen aus unserem Stammspäti holen – der hatte leider geschlossen. Und ja, wir sind rückfällig geworden. Nur Wein hält ja keiner aus. Als ich den Laden entdeckt habe, große Empfehlung, mussten wir uns einfach ein richtiges Bier gönnen. Neben verschiedenen Sorten Bier vom Fass gibt es alles Wichtige: Trockenfisch und Kartoffelchips.

Am Bahnhof statten wir uns mit Wasser und Dosenbier aus. Traurige Auswahl im Kiosk. Unser Zug steht bereits bereit. Während ich die eingepackten Mixed Pickles vom gestrigen Abendessen verdrücke, schaut Ortwin sicherheitshalber vom Bahnsteig aus zu, statt sich über den Geruch im Abteil zu beschweren. Um 22:40 Uhr rollen wir aus Tbilisi hinaus und haben noch einmal einen wunderbaren Blick auf die Skyline: der Fernsehturm, das beleuchtete Riesenrad, in dem wir vor ein paar Stunden noch waren und viele weitere tausende Lichter.

Der Nachtzug ist ein neues russisches Modell. Der Zug hat drei Klassen – wir haben uns für die Zweierkabine statt dem Sammelabteil entschieden und erhalten neben vier Flaschen Wasser, Keksen, Kaffee und Tee (fürs Frühstück mit Wasser aus dem Samowar im Gang selbst zuzubereiten) noch Schlappen, ein Handtuch, eine Zahnbürste und leider keine Kaffeebecher.

Ich erkläre Ortwin, dass das alles Nachhaltigkeitsgründe haben wird und wir uns die Zahnbürste teilen sollen. Ich mache den Anfang selbstbewusst. Ein Waschbecken gibt es nicht im Zimmer, aber sogar eine Toilette mit Dusche im Wagen. Es gibt kein Klopapier, dafür das klassische Bidet/ Gartenschlauchmethode.

Zurück im Zimmer werden die Betten ausgeklappt und bezogen, das Fenster kann man aufklappen und bei der angenehm sommerlichen Nacht braucht man auch nicht viel mehr als die bereitgestellten Laken.

Gute Nacht Ortwin, murmel ich gegen 0:30 Uhr im Wissen, dass wir in knapp 90 Minuten von der Grenzkontrolle wieder geweckt werden. 
Vielleicht können wir der Politik in Europa tägliche Nachtzugfahrten über die Grenzen der EU aufzwingen, um den Unfug zumindest im Schengenraum wieder zu beenden, denke ich, während wir wegdösen. Keine zehn Minuten später donnert es an der Tür.

Ich hätte mich über eine richtigere Uhrzeit gefreut, dann hätte ich meine Hose noch nicht ausgezogen.

Ortwin 0:50 Uhr

Für die erste Grenzkontrolle und das Ausstempeln der Pässe steigen wir aus – noch in Georgien. Nachdem wir wieder eingestiegen und eingeschlafen sind, werden unsere Pässe, immer noch in Georgien, ein zweites Mal kontrolliert. Nach einer kurzen Fahrt hält der Zug erneut, diesmal an der armenischen Grenze, und das Schauspiel wiederholt sich. Diesmal steigen wir allerdings nicht aus. Der erste Grenzbeamte schaut lediglich auf unsere Pässe und fragt: „Germany?“. Müde nicken wir, und er konkretisiert: „Cologne?“. Das beantworten wir mit einem herzlichen KÖLLEEE… ALAAAF! verneinen wir wahrheitsgemäß, was ihn aber nicht weiter stört. Zufrieden zieht er ab. Ich frage mich, was wohl passiert wäre, wenn ein echter Jeck mit uns im Abteil säße. 

Kurz darauf kommt noch ein junger Kollege nach, inspiziert skeptisch Ortwins blondierte Frise und scannt dann uns und unsere Pässe. Nachdem wir uns namentlich zugeordnet haben – was nach 14 Tagen gar nicht mehr so leicht ist – sind wir durch. Um 02:20 ist die Kontrolle in Armenien durch. Wir sind offiziell willkommen.

Im rollenden Zug schlafe ich immer gut. Nachdem die Pässe kontrolliert und die Tür wieder verschlossen ist, verlagert sich das Getrappel der Schritte langsam von uns weg. Doch Rollen tun wir weiterhin nicht. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie sich der Zug in Bewegung setzt, mein Körper schaukelt und gegen die Abteilwand gedrückt wird. Das vertraute „Klack-Klack“ der Schwellen lullt mich langsam ein, oder ist es nur in meinem Kopf? Ich träume mir meinen Nachtzug einfach herbei, wenn ich ihn brauche.

Montag, 23.09.2024 – 07:40 Uhr

Guten Morgen! Wir fahren durch riesige, kahle Berge, etwas mediterrane Landschaft und sehen auffallend viele Störche, die auf den Masten der Oberleitung ihre Nester haben oder auf einem Bein daneben stehen. Vor wenigen Wochen flog der Storch in der Uckermark. Nun ist er schon hier.

Plötzlich dringt Rauch in unsere Kabine ein. Geht das schon wieder los? Ich habe ein Déjà-vu zu gestern Morgen an der Bushaltestelle. Mit einem lauten Schlag schließe ich das Fenster, und wir blicken gebannt hinaus. Die Ursache des Rauchs bleibt unentdeckt, dafür sehen wir eine Schafherde. Diese brennt nicht. Generell müssen wir viel aus dem Fenster schauen – keiner von uns hat Datenvolumen für Armenien gebucht.

Obwohl wir laut GPS noch viele Kilometer außerhalb der Stadt sind, steigen plötzlich alle Menschen, inklusive Ortwin und der Zugbegleiterin, an einer sowjetisch pompösen Station aus. 
Tatsächlich: wir sind bereits in Yerevan. Also aussteigen und erst einmal in Ruhe den Zug fotografieren. In Tbilisi war es dafür zu dunkel.

Anschließend gehen wir in die nahegelegene Mall, nutzen das WLAN und suchen den Weg zum Hostel. In der Mall kommt dann die erste Überraschung: Armenien besitzt keine stabile Kanalisation, wie wir sie kennen. Neben den Toiletten steht ein Mülleimer, und Ortwin weiß sofort, was das bedeutet. Flashback zu unserer Reise nach Albanien. Drei Jungs und Toilettenpapier darf nicht in die Toilette. Er freut sich fast – und überlegt kurz, ob er direkt wieder umkehren soll.

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