Kultur, Geschichte und lecker Sanddorn-Saft
Ein Gastbeitrag von Ortwin Ferdinand Sebastian Bader-Iskraut
Während Lorenz heute mit Kopfschmerzen das Bett hütet, begebe ich mich alleine auf eine Free-Walking-Tour durch Yerevan.
Der beste Start, wenn man sich mit einer Stadt und den kulturellen Gepflogenheiten nicht auskennt und nicht ausversehen die Nation beleidigen oder eine Verlobung eingehen möchte (ein Erfahrungswert).
Gemeinsam werde ich vorm Historischen Museum gemeinsam mit einem Dutzend anderer Nationalitäten von Kanada bis Russland von Tigran, einem gebürtigen Yerevaner breitesten Lächelns.
So eine Free Walking Tour ist hier dem Namen natürlich nicht wirklich kostenlos, da am Ende ein großzügiges Trinkgeld zwischen 4000-12000 AMD erwartet wird (ca. 10-30 Dollar), dazu kommen noch ein paar Euro für Saft- und Lebensmittelproben.
Für 3,5 Stunden Stadtführung ist das aber absolut angemessen.
Wir besuchen einen lokalen Souvenirmarkt mit einem opulenten Schachbrettstand (Schach ist in Armenien Pflichtfach in der Schule), danach geht es zu verschiedenen Denkmälern, Hinterhofbars und Sehenswürdigkeiten.
Nach dem Einmarsch der Sowjetunion im vorherigen Jahrhunder wurde Yerevan nach sowjetischen Vorbild niedergerissen umgestaltet und der russische Einfluss auf die Archietektur ist besonders im opulenten Stadtzentrum sehr präsent.
Yerevan wird aufgrund des verwendeten Vulkangesteins übrigens die pinke Stadt genannt.
Wir lernen viel über die armenische Perspektive der komplexen politischen Spannungen in der Region, in der Armenien mangels größerer Bodenschätze oder schlagkräftiger Armee nicht die eindrucksvollsten Machtoptionen hat.
Eine unvollständige und hoffentlich nicht grob falsche Auflistung fasst unsere Erkenntnisse über die diplomatischen Beziehungen zusammen.
Gar nicht gut: Armenien-Aserbaidschan, Armenien-Türkei, Georgien-Russland
Nicht gut: Türkei-Russland
Ganz ok: Aserbaidschan-Russland, Armenien-Georgien, Iran-Aserbaidschan, Iran-Georgien, Iran-Türkei
Gut: Aserbaidschan-Georgien, Aserbaidschan-Türkei, Armenien-Iran, Iran-Russland, Aserbaidschan-Iran, Georgien-Türkei
Super: Alle-Öl
Besonders das Kapitel des Armenisch-Türkischen Konflikts in den 1910er Jahren, das die eine Seite als Genozid an den Armeniern und die andere Seite als Fiktion bezeichnet, wird eindringlich thematisiert.
Auch beim Bergkarabach-Konflikt und der Vertreibung von 100% der armenischen Bevölkerung aus dem völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörenden Bergkarabach im Jahr 2023 wird es stiller in der Runde.
Heutzutage ist an Armenien vorbei eine Bahnlinie von Istanbul über Tblisi nach Baku zum aserbaidschanischen Öl in Betrieb, gleichzeitig betreibt Russland ungestört durch Georgien und Armenien hindurch Handel mit dem Iran, einige Konfliktherde scheinen also momentan deeskaliert.
Trotz der schweren Themen, die zur armenischen Geschichte gehören, werden auch die vielen schönen Seiten Yerevans gezeigt.
Wir trinken Sanddorn-Saft in einer Art armenischen Version eines BierWeingartens, essen traditionelles Lavash-Brot, das ähnlich wie in Zentralasien an den Wänden eines Kaminschachtes gebacken wird und bekommen eine Liste mit Restaurants zugesteckt, bei denen man als Tourist nicht allzu sehr abgezogen wird.
Armenien ist trotz der vielen Grenzkonflikte ein überraschend entspanntes Land, die Leute sind freundlich und zugewandter als im Norden und man schwebt als Fußgänger nicht in permanenter Lebensgefahr.
Yerevan ist trotz der sehr homogenen Bevölkerung ein Melting Pot aus sowjetischen und orientalischen Einflüssen und wirkt in der Innenstadt trotzdem manchmal wie ein sauberes, mediterranes Urlaubsstädchen.
Morgen geht’s erstmal auf den Gum Market, aber ich werde wohl nicht zum letzten Mal hergekommen sein!