Mittwoch, 25.09.2024
Unser letzter vollständiger Tag in Armenien bricht an. Das Hotelfrühstück ist spannend. Gestern habe ich eine große Portion kalte Spaghetti gefrühstückt, heute gibt es Würstchen, Aprikosenmarmelade und gekochten Buchweizen.
Als wir uns um kurz nach halb elf aus dem Hotel bewegen und auf den Weg zum Obstmarkt machen, hat Ortwin noch eine spontane Idee. Er schlägt vor, ins Schriftrollen-Museum zu gehen. Ein Museumsbesuch von Ortwin, das ist ungefähr so wie eine soziale Idee der FDP: Extrem selten und man sollte sie gründlich hinterfragen. Ortwin bekam das Museum von einer Bekannten empfohlen und ob der Geschichte des Landes hat er ungewöhnlicherweise sogar weitere Museen recherchiert. Na gut, ich kenne Ortwins Desinteresse für Museen, aber wenn er es schon vorschlägt …
Um 11:10 Uhr betreten Ortwin und ich das Matenadaran Museum, oder wie Google sagt, das Forschungsinstitut, in dem viele seltene Manuskripte, Pergamente und Bücher ausgestellt werden. Es kostet umgerechnet knapp 3,50 € Eintritt pro Person. Ich als E-Book-Fan finde es ja immer spannend zu sehen, wie man früher gelesen hat. Ein Buch ohne Stromanschluss und WLAN ist für mich als Digitalnative kaum mehr vorstellbar. Warum Ortwin her wollte, ist mir noch immer ein Rätsel.
Ich erfahre, dass Ortwin germanistische Linguistik an der HU studiert hat und im ersten Semester tatsächlich anwesend war. Die anderen zwölf Semester studierte er überwiegend das Semesterticket im Berliner ÖPNV. Im Museum fährt keine Bahn, Ortwin bewegt sich selbstständig und wirkt neben den anderen Museumsbesucher:innen höchst agil. Er flitzt von Vitrine zu Vitrine. Wissbegierig, wie ein Klassenstreber will er alles sehen und wissen.
»Sieht gut aus, alles schön bunt und Schriften. Überall Schriften«
Prof. Ortwin
Ich finde beeindruckend, wie unterschiedlich und filigran die Einbände der Bücher sind. Es scheint fast, als hätte parallel zum Inhalt der hunderten per Hand geschriebenen Seiten (der Buchdruck wurde bekanntlich erst von Karl Friedrich Epson, Burkhardt Brother, Hans & Peter sowie Stefan Canon erfunden) ein Mensch tagelang am Einband geschnitzt, geschmiedet oder gegerbt. Auch die Größen variieren stark. Ich nehme an, die DIN-Norm ist eine Erfindung der Neuzeit. Leider sind die Erläuterungen auf Englisch karg, doch manche Dinge stehen für sich oder eben auf dem Schädel eines Wels.
Nachdem wir drei Ausstellungsräume angesehen haben, fasst Ortwin zusammen: »Das war’s. Wir waren jetzt ne halbe Stunde drin, noch ne halbe Stunde und ich krieg Kreislauf.« Ich schaue auf die Uhr, rechne zurück und erwidere »Es waren zwanzig Minuten«. Ortwin: »Mir kommt es vor, wie ein Tag«. Ich lobe Ortwin wie einen Dackel, der gelernt hat, an hohen Türschwellen nicht mehr mit dem Bauch aufzusetzen. So lange hat er es im Museum ausgehalten, ich möchte ihm ein Leckerli zuwerfen. Darf man hier aber nicht.
Im Erdgeschoss entdeckt er dann aber noch einen weiteren Raum, ist kurz geschockt, sagt »Was soll’s« und gibt sich ihm hin. Ich nehme diesmal die Zeit, mit Ortwin kann ich dieses Museum ohnehin nicht in Ruhe besichtigen. Vor jedem Exponat oder Gemälde im Raum verweilt er kurz, nickt und geht weiter. Nach unter zwei Minuten haben wir den Raum geschafft.
»Der kann gar nicht anders. Wenn der Museen besichtigt, dann immer in Spikes. Der hat zum Beispiel in Petersburg die Eremitage in zwei Minuten gemacht. […] Wenn die anderen beim ersten Bild sind, dann ist er schon am Ausgang und kauft Kataloge. Wenn der in Italien Kirchen besichtigt, dann wird die Passion Christi zum Daumenkino«
Rainald Grebe, „Die Welt nach 1989“ aus Das Abschiedskonzert
»Angeblich gibt es noch ein viertes Stockwerk«, sagt Ortwin. »Aber ich finde den Aufzug nicht.« Ich muss ein Lachen unterdrücken und dann finden wir den Aufzug doch noch. Oben stellen wir fest, dass der vierte Stock wohl doch nicht offiziell zu begehen ist. Aber ein hübscher Kronleuchter hängt hier.
Um 11:42 verlassen wir das Museum wieder. Für den Souvenirshop bleibt jetzt wirklich keine Zeit mehr. Wir wollten ja zum Obstmarkt und was Gesundes essen. Ortwin: »Ich will jetzt ne Cola«
Heute ist wieder ein Metro-Tag. Die Armenische kennen wir bislang nicht. Das hiesige Drehkreuz lässt sich aber nicht per Visa-Karte drehen. Ortwin tauscht daher Geld gegen Plastikmünzen. Die wirken wie aus dem Kaugummiautomaten und ermöglichen Einlass für beliebig viele Stationen und Umstiege.
Ortwins Plan kostet diesen Umstand extrem aus. Wir fahren bis an die Endstation der einzigen Linie, die trotz der Tatsache, dass die opulenten Stationen für mindestens 5 Waggons ausgelegt sind, nur mit 2-3 Wagen fahren und entsprechend gut besucht sind …
Dann geht es mit einem einzelnen, stark schwankenden Dieseltriebwagen zur einzigen Abzweigung der Metro, von dort wieder zurück und schließlich steigen wir an der nahe Obstmarkt gelegenen Station aus. Vorher aber kurz Kultur. Im Schatten der Kirche Gregor des Erleuchters lässt es sich aushalten. Drinnen quietschen unsere Schuhe auf dem glatt polierten Boden des beeindruckenden hohen Gewölbes.
Auf dem Markt wirft man förmlich mit Aprikosen, Trockenobst und Nüssen nach uns. Wir brauchen ohnehin noch etwas für unsere Mägen, decken uns daher mit Aprikosen und dem größten Pfirsich der Welt ein.
Außerhalb der Markthalle schwimmen wieder Tiere in zu kleinen Aquarien und, diesmal neu, flattert Federvieh in zu kleinen Käfigen.
Wir haben noch Chips für die Metro über, nutzen diese direkt, um zurück in die Innenstadt zu kommen. Es fehlen noch Haken neben armenischen Manti und gefüllten Weinblättern auf der kulinarischen Regatta. Zu Weinblättern passt selbstverständlich Wein am besten.
Die schönen Zeiten, in denen wir jeden Wein bestellen und uns gut schmecken lassen konnten, sind aber wohl vorbei. Vermissen wir Georgien? Ja! Aber morgen sind wir ja noch einmal dort.
Nach dem Essen gibt es einen Smoothie für Orti. Er wird beim Bestellen gefragt, ob noch eine Portion Zucker dazu soll und verneint. Hätte dann aber doch süßer sein können …
An dieser Stelle wollte ich einen Witz im Stile von Radio Eriwan (Fiktiver Radiosender) einfließen lassen, doch mit keinem meiner Entwürfe war ich zufrieden. Einsendungen & Ideen gerne an unsere Mail.
Wir laufen weiter und auf dem Weg zu einem weiteren Museum in einen weiteren Markt. Ortwin bestaunt den Schmuck, Bilder, Schachbretter und Degen. Letzteres sind Kebabspieße, aber ich mag seine Fantasie. Wir schlendern so lange über den Markt und vielleicht lese ich auch noch etwas auf einer Parkbank, dass wir es nicht mehr ins Museum schaffen. Stattdessen trödeln wir einfach weiter durch die Stadt.
»Is it cash only or can we pay with creditcard? We‘re from germany …«
Ortwin 🥔 Bader-Iskraut
Eine letzte Pause gönnen wir uns im schattigen Innenhof einer interessanten Mischung aus Bibliothek und Hipsterbar.
Dort probieren wir zum ersten Mal einen Ararat Brandy, den ich nach einem kurzen Würgereiz in einen gierigen Ortwin hineinschütte.
Dann ab zum letzten Essen des Abends. Auf dem Weg zur Taverne kommen wir an einer opulenten Statue eines wichtigen Kriegsherren der Sowjetzeit vorbei, bestaunen die Blaue Moschee und finden uns schließlich am voraussichtlich letzten, entspannten Essenstisch dieses Urlaubs wieder.
Für mich gibt es frittierte Khinkali, die Ortwin als fragwürdiges kulinarisches Verbrechen an der georgischen Esskultur bezeichnet, und einen Kebab.
Für Ortwin gibt es Khurjin, ein opulenter Lamm-Gemüse-Mix in einem aufgefächerten Lavash-Brot, welches als Showeinlage am Tisch vom Kellner geöffnet wird.
Ein zumindest optisch spektakulärer Abschluss, der von einem hervorragenden Granatapfelwein begleitet wird.
Ortwin gönnt sich zum Abschluss einen 10 Jahre alten Brandy, der riecht und schmeckt wie eine tolle Mischung aus einem edlen Whiskey und Dieselkraftstoff. Mein Alkoholpegel steigt vom Riechen um 0,3 Promille. Zeit, ins Bett zu gehen. Ach nein, ich muss noch vier Weinflaschen polstern und meinen dicken Rucksack handgepäckkonform wirken lassen. Morgen startet die Rückreise. Wie? Dazu morgen mehr.