Warum?

Warum fahren wir Bahn, warum reisen wir so umständlich und war es das Wert?

Ja, eine Nachtzugfahrt ist nicht immer das Gelbe vom Ei. Je nach Dauer, Grenzen, Bett und Beschaffung der Gleise schlafen die einen mehr, die anderen weniger oder gar nicht. Ich schlafe überall irgendwie und bin darüber sehr dankbar. Die Reise auf der Schiene verbindet für mich nicht nur Vorankommen mit einer gesparten Übernachtung vor Ort. Bahnfahren ist Entschleunigung, Kraft tanken und Zeit, die ich in Bücher, Landschaft und Nachdenken investiere. Die Welt sieht von oben spannend aus, keine Frage. Auch auf Reiseflughöhe ist es nicht unangenehm. In der Bahn genieße ich eine andere Form der Freiheit. Ich kann oft meinen Sitzplatz selbst aussuchen und während der Fahrt wechseln. Tolle Landschaft? Da springe ich schon mal zwischen den beiden Seiten des Waggons hin und her. Zunehmend selten, aber noch immer oft genug gibt es einen Speise- oder zumindest Bistrowagen und ein Spaziergang durch den Zug lohnt sich ohnehin immer. Im Zug unterhält man sich, teilt entweder eh das gleiche Ziel oder die Leidenschaft und Erlebnisse.

Wir sind mit der Bahn durch sechs Länder gefahren, hatten dazwischen noch eine Überfahrt mit dem Schiff. An so vielen Realitäten vorbeizurollen, so viele Eindrücke zu erleben – das schafft nur die Eisenbahn. Abseits der Hauptverkehrsrouten und Städte sieht ein Land oft anders aus. Egal, ob Sozialismus, Kapitalismus oder etwas dazwischen – Ich finde es stets spannend zu sehen, wie sich die Welt vor dem Fenster verändert und was das Land dahinter ausmacht. Auch wenn die Verbindungsqualität schwankt, ich bin auf Schienen nicht offline. Oft nutze ich die Kartenfunktion in der Wikipedia um nachzulesen wo wir da vorbeifahren.

Jede Grenzkontrolle war nervig und ein Grund, sich noch stärker für ein offenes Europa einzusetzen. Doch mit jedem Ausstieg oder den im Zug kontrollierenden Zollbeamten schwappte auch Kultur mit. Sei es die Begrüßung in einer fremden Sprache oder auch nur ein knappes »welcome to Armenia« mit dem Überreichen des Passes. Ein Bahnhof erzählt schon manches, Menschen noch viel mehr. In einem neuen Land, an einem fremdem Bahnhof anzukommen, am ATM fremdes Geld abzuheben und sich dann zu fragen »wohin als Nächstes?« mag für viele zu wenig Planungssicherheit bieten. Uns macht es Spaß.

Es wird nicht langweilig, selbst wenn man nachts aus dem Zugfenster schaut, sieht man immer etwas. Die meditativ vorbeiziehende Landschaft bietet auch immer wieder Situationen, in denen ich abdrifte und über das eigene Leben nachdenke. 19 Tage unterwegs und bis auf den Rückweg Kutaisi – Berlin alles mit Bahn, Bus und Fähre haben mir Zeit geboten, über mich nachzudenken. Wenn das mal erledigt ist, bleiben immer noch viele Erlebnisse abseits der Schiene. So vergeht letztlich auch die längste Zugfahrt wie im Flug.
Spätestens am Flughafen wird mir wieder bewusst, was ich alles nicht vermisse. Ich möchte hier nicht alles aufzählen, hatte aber schon beim Schlange stehen genug. Der Zug vom BER in die Stadt war dann übrigens der erste auf der Reise der nicht pünktlich abfuhr.

[zur Melodie von die Ärzte – „zu spät“]
»Warum habe ich mir das angetan? Drei Wochen lang ständig Bahnfahren.
Du nimmst den Flug und bist schneller am Ziel, dafür sehe ich so viel.«

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