Tag 3 und 4 – Marseille und Fähre

Im Nachtzugabteil schnarcht niemand außer mir, weshalb ich einige Stunden Schlaf mitnehme. Ich kann mich nicht als ausgeschlafen bezeichnen, habe aber sogar kurz geträumt. Die drei mittelalten Mitreisenden haben mich kein einziges Mal geweckt. Einmal bin ich wohl vom Schaukeln des Zuges aufgewacht, zwei weitere Male ist mir die Schlafmaske verrutscht – ich kann mit sowas einfach nicht schlafen. Um 6 Uhr vibriert meine Uhr und ich beginne leise, alles zusammenzuklauben und mich anzuziehen. Aus dem Abteil heraus und mit Sack und Pack an der Tür stehend, erhasche ich diesen Blick:

Erster Blick aufs Meer am Morgen,
der Reisende vergisst seine Sorgen

In Marseille Blancarde angekommen, merke ich, dass meine Planung übersehen hat, dass es zwei Bahnhöfe gibt. Aus der einen Stunde, die zwei Füße laut GoogleMaps zum Hafen laufen, sind nun zwei geworden. Aber alles kein Problem, denn auch in Marseille gibt es Leihräder. Ich brauche nur etwa 25 Minuten, um mir ein Konto zu erstellen, die App zu löschen, erneut zu installieren und ein Rad zu entsperren. Dann geht es los und in 25 Minuten bin ich am Hafen. Erstmal frühstücken und Menschen beim Frühsport zuschauen. Hier joggen anscheinend alle.

Nachdem ich keine Croissants mehr habe, suche ich eine Bleibe für meinen Rucksack. Ein bisschen Distanz tut uns gut. Ohne Last auf den Schultern lasse ich mich um kurz vor zehn auf einem Fährschiffchen zum Château d’If schippern.

Das Château d’If liegt vor Marseille auf einer kleinen Insel und sieht aus, als hätte jemand eine Festung direkt ins Meer gesetzt. Die Insel ist literarisch wertvoll, denn hier saß angeblich der Graf von Monte Cristo ein. In der Realität war es ein Gefängnis für politisch Unbequeme (vermutlich daher die Empfehlung von Freundin M.). Ich fahre freiwillig hin und sehe überall Postkartenmotive. Vom Bötchen strömen glücklicherweise nicht alle Menschen auf die Gefängnisinsel. Ich lasse dem Touristenansturm den Vorrang und warte, bis ich entspannt die 7€ Eintritt lösen kann. Hoffentlich komme ich dafür auch heute hier wieder weg.

Abseits der Massen finde ich ein kleines Gärtchen. Beim Betreten raschelt und fleucht es überall: Eidechsen. Dazu Hochbeete und Topfpflanzen unterschiedlichster Art. Es ist wunderschön.

Die Festung ist inzwischen wieder menschenleer und ich erkunde sie, während mir eine K.I.-Reiseführerfakten ins Ohr säuselt. Das alte Gemäuer ist beeindruckend, die Geschichte ebenfalls und dazu die grandiose Aussicht. Aus jedem Erker oder von der Festungsdachterrasse. Überall außerdem Gelbfußmöwe (lokal liebevoll „gabian“ genannt) die hier gerne nisten. Schilder warnen vor Angriffen, also den Schnabeltieren nicht zu nahe kommen.

Zurück geht es mit dem Boot erst noch zu einer anderen Insel und dann in den Hafen. Ich ernte einen Salat im Supermarkt, bevor ich mich schon mit Tram und Bus zum Fährhafen aufmachen muss. Da die Adressangabe der Reederei für Autos zwar mit einer genauen Adresse, für zu Fuß Reisende aber nicht angegeben ist, habe ich bei Google Maps eine unangenehm hohe Auswahl und entscheide mich instinktiv für die falsche. Bevor ich das merke, laufe ich über viele matschige wilde Feigen und rutsche slapstickartig vor einer Passantin aus, wobei ich mich noch irgendwie, irgendwo an der schroffen Felsmauer halten kann. Nur der kleine Finger blutet, sonst geht es mir gut. Nochmal in den Bus und ich schaffe es, den richtigen Eingang zu finden. Anstehen, Passkontrolle #1 und eine Vorwarnung: Der tunesische Zoll will wohl gern wissen, wann und wie zurückgereist wird und auch, wo Mensch schläft. Nun weiß ich zwar, dass ich Freundin A. besuche und dort schlafen kann, aber ich habe weder Buchungsbestätigung noch Adresse von ihr bekommen. Nicht einmal im Spamordner ist etwas. Einzig eine Bestätigung auf totem Baum, wann und wo meine Fähre zurückgeht, kann ich vorweisen. Im Folgenden wird mein Rucksack geröntgt und glücklicherweise nichts Schlimmes gefunden. Passkontrolle #2, die Ausreise aus Frankreich, läuft problemlos und es geht in den Bauch des Schiffs.

Über zahllose Treppen erreiche ich Deck 8 und meine Kabine Nummer 8469. Ich lege nur kurz ab, schnappe mir das iPad und begebe mich auf die Suche nach Aussicht und Mobilfunknetz. Denn ich bin mit Freund J. verabredet. Er ist in Berlin, ich im Hafen von Marseille. Wir planen direkt die nächste Reise, die uns gemeinsam auf eine Insel führt. Mehr dazu später – bringen wir erst einmal diese Reise zu Ende.

Nachdem es mir an Deck zu kühl wird und eh kaum noch Küste zu sehen ist, mache ich mich auf die Suche nach der Rezeption. Als guter Deutscher ist es mir ein inneres Anliegen, mich zu beschweren, und ich habe guten Grund dazu: Meine Toilettenspülung funktioniert nicht. Erst zweifelte ich, überlegte, ob das schwerölverbrennende Schiff womöglich der Umwelt zuliebe auf Trocken-Trenntoiletten umgestellt hat. Ein Test durch Füllung der Schüssel mit dem Duschschlauch zeigte aber, dass nur der Wasserzufluss nicht funktionierte. An der Rezeption versteht man die Mischung aus Französisch und Englisch – ich nenne es Franglisch – und sagt mir zu, sich zu kümmern. Es folgt die Ansage: »Ist zufällig ein Monteur an Bord?“, allerdings auf Französisch, meine Übersetzung mag nicht ganz korrekt sein. Ich mache mich auf, zurück zur Kabine zu laufen, gehe erst in die falsche Richtung und finde schließlich irgendwann zurück. Kaum sitze ich auf dem Bett, um zu lesen, machte die Toilette Geräusche. Tatsächlich werkelt ein Monteur im Gang. Erste Testspülung: Kein Erfolg. Zweiter Test: Nope. Dritter Versuch: Habemus Klospülung! Schade, ich hatte auf ein Upgrade gehofft, aber wer braucht schon Bullaugen?

Das schwingende Schiff, der vibrierende Motor und nur hin und wieder die stille, durchbrechende Durchsagen auf Sprachen, die ich nicht ausreichend verstehe (aber da „Voiture“ darin vorkommt, erscheinen sie mir irrelevant), machen mich müde. Schon um 22 Uhr liege ich in einem der zwei Betten. Im anderen habe ich meinen Rucksack zugedeckt und ihm eine gute Nachtgeschichte von reisenden IKEA-Tüten erzählt, die unsterblich sind. Es ist wirklich verwerflich und dekadent, dass ich diese Reise allein angetreten bin, denke ich beim Einschlafen.

Als ich die Augen in der stockdunklen Kabine aufschlage, ist es erst 8 Uhr. Ich döse weiter, wohlwissend, dass es noch viele Stunden bis zur Ankunft sind. Irgendwann erinnere ich mich, dass zu Unterhaltungszwecken auf dem iPad ein paar Dokus gespeichert sind, die ich nun laufen lasse. Der Rucksack wird wach und fühlt sich nicht gut. Ich spüre nur ein leichtes Schwanken, das ich als angenehm empfinde. Ihm macht es mehr aus und er entleert sich komplett. Also beginne ich zu sortieren: Mitbringsel für A. in einen Jutebeutel, Schmutzwäsche in einen anderen und alles, was inzwischen weg kann, wird entsorgt oder gegessen. Spürbar sortierter und leichter geht es dem Rucksack wieder gut und ich gönne ihm etwas Me-Time, während ich an Deck nach Land Ausschau halte.

Inzwischen ist es kurz nach 12 Uhr. Auf dem iPad lief zuletzt ein Konzert im Vollbild und aufs Telefon habe ich mangels Internet auch nicht geschaut. Die Zeit vergeht auch in einer fensterlosen Innenkabine und ich habe mich nicht einmal gelangweilt. Als ich das Außendeck, welches nur als Raucherbereich gekennzeichnet ist, erreiche, sehe ich Wetter. Nicht nur um das Schiff herum ist es nass, auch von oben fällt Wasser. Darauf bin ich Kleidungsgtechnisch gerade nicht eingestellt. Also wieder rein und in eine der Lounges etwas schreiben und lesen. Das muss immer ausgeglichen getan werden, da es sonst im Körper zu einem Wortüberschuss oder, schlimmstenfalls, Buchstabenmangel kommen kann.

Im Duty-Free-Shop gibt es nichts, das mich reizt oder den Preis wert wäre. Also lege ich mich nochmal aufs Ohr und lausche den Wellen. Um 16 Uhr mache ich mich deckfertig – Ankunft 18 Uhr. Als ich an Deck bin, riecht das Telefon Internet und stellt sich direkt eine Stunde zurück. Na gut, noch mehr Zeit, diesen Blogpost zu beenden.

Reiseleiterin A. kennt meine Ankunftszeit scheinbar besser als ich und verfolgt die Fährfahrt digital. Was es nicht alles gibt. Gegen 16 Uhr Ortszeit legen wir an und weil die Ansage mal wieder zu schnell für mich ist, erfrage ich mir den Weg zum Ausstieg für Menschen ohne Fahrzeug. Deck 4. Dort sammeln sich bereits die Automenschen, können es kaum erwarten, rauszufahren. Noch bevor die Luke öffnet, werden Motoren angelassen und Wartezigaretten geraucht.

Ich hänge mich an zwei Briten, die wie ich „Piétons“ sind. Dann öffnet sich die Klappe, aber wir werden nicht hinausgelassen, sondern zurück an Deck 7 geschickt. Von dort kamen wir, aber gut. Am anderen Ausgang geht es dann und ich betrete Festland. Es folgt eine Passkontrolle, an der ich beinahe vorbeigelaufen wäre. In Bröckchen stückle ich zusammen, dass ich eine Freundin besuche, sie aber kein Hotel ist, ich aber sehr wohl eine Rückfahrt habe und diese auch nutzen möchte. Es funktioniert und mein Pass wird gestempelt. Weiter zum Röntgen – der Rucksack hat sich nichts gebrochen, soll sich aber ein paar Tage schonen.

Hallo Tunesien!

Nun erstmal Taxifahrer abwimmeln und Fußmarsch in Richtung Bahnhof. Ich muss nach Marsa, das ist offiziell eine eigenständige Stadt nordöstlich von Tunis und direkt an der Mittelmeerküste. Auf dem Weg hebe ich Bargeld ab und tausche Teile davon gegen Wasser und Orangina. Den Bahnhof der Bahn finde ich schnell, auch warten dort andere Menschen, was immer ein gutes Zeichen ist. Nur eine halbe Flasche Orangina später kommt auch schon die Bahn, konkret die TGM. Nach einer Haltestelle ist leider schon Endstation wegen Baustelle. Eine freundliche Frau erkennt den überforderten Touristen in mir und nimmt mich mit. Sie spricht mehr Französisch als ich verstehe, aber die Hilfe ist gern gesehen. Auf dem Weg zeigt sie mir den Grund der Unterbrechung: Eine Brücke fehlt.

Bis meine Wegweiserin abbiegen muss, nimmt sie mich mit, weist mir dann noch die weitere Richtung und ich bedanke mich in allen Sprachen, die ich kenne. Am zweiten Bahnhof des Tages steht die Bahn schon bereit. Hier kann ich auch ein Ticket kaufen und schon geht es los. Am dritten und letzten Bahnhof des Tages werde ich abgeholt und damit ist die Odyssee für heute beendet. Berlin – Paris – Marseille – Tunis ✅

Posted in