Um 08:30 beginnen wir unsere Wanderung vom Hostel in Shiel Bridge aus. Die Nacht war notwendig um Kraft zu tanken und auch wenn wir es nicht wie angedacht um 8 Uhr auf den Wanderweg geschafft haben, sind wir frohen Mutes. Der Anfang des Weges ist der Rückweg vom gestrigen Fußmarsch zum Hostel – wir kennen ihn und vermissen lediglich die Pferde, welche uns gestern wiehernd begrüßt haben. Mit abnehmender Zivilisation wächst die Faszination für die Landschaft. Uns tut sich eine Welt auf, die schöner nicht sein könnte. Erinnerungen an Herr der Ringe Filme und in J.’s Kopf das Videospiel „Death Stranding“ werden wach, auch wenn all das nicht wirklich hier spielt. Alles ist schön.




Durch ein Tal hindurch erreichen wir die erste Herausforderung: Der schöne Fluss den wir bereits von weitem gesehen haben, muss nun über- oder besser gesagt durchquert werden. »Wir müssen furten!« tönt es vom Kopf der Gruppe.
Eine Furt ist eine flache Stelle in einem Fluss oder Bach, die es ermöglicht, ihn zu Fuß oder mit einem Fahrzeug zu durchqueren. Beim Furten ist es wichtig, die Tiefe und Strömung des Wassers zu beurteilen, eine sichere Technik zu verwenden und die richtige Ausrüstung dabei zu haben
Ausrüstung ist ein gutes Stichwort. Wir haben alle unterschiedlich viel Erfahrung und Materialien dabei. L. ist mit zwei Wanderstöcken ausgerüstet und hat im Vorhinein J. und mich damit infiziert. Vier Stöcke sind somit Teil der Gruppe und können bei dieser Aktion helfen. Es liegen genug große Steine im Fluss, dass unsere Füße trocken bleiben sollten. Doch Körpergröße, Flexibilität, Sprungkraft und Gleichgewichtssinn lassen den Weg für alle aus der Gruppe unterschiedlich schwer erscheinen. Samson und L. sind die ersten auf der anderen Seite. Es dauert, bis sich der Rest der Gruppe andere Optionen angesehen, abgewogen und schließlich verworfen hat. Am Ende queren fast alle an der gleichen Stelle und die meisten Schuhe bleiben einigermaßen trocken. Doch diese Aktion hat Zeit gekostet. Eine gute halbe Stunde, um genau zu sein.




Weiter geht es, langsam mehr bergauf. L. bittet alle, sich kurz zu sammeln und in sich zu fühlen. Wie belastend war der Weg bis hier, wie viel Reserven hat jede:r noch? Tourenplanungen hin oder her, hier ist ein Umkehren noch leicht und ein Rückweg in die Zivilisation auch allein möglich. Auch wenn manche schon mehr ächzen als andere, entscheiden sich alle der Tour de Bier weiterzugehen. Jetzt beginnt erst der schwere Teil: Ein Anstieg, der sich gewaschen hat. Steil bergauf stapfen wir hintereinander und merken schnell, wie unterschiedlich Kraft und Kondition verteilt sind. Dazu kommen Rucksäcke, die von 7 Kg bis über 14 Kg verteilt wiegen. Auch diesen Weg meistern wir, pushen uns gegenseitig und finden in Kleingruppen den Weg nach oben.




Wir haben größtes Glück mit dem Wetter: Ganz wenig Nieselregen erreicht uns in der ersten Stunde, später ist es so warm, dass manche im T-Shirt wandern und die Sonnencreme herumgereicht wird. Auf dem Bergkamm wird es windig und kühl und wir packen uns wieder ein. Ich trage pessimistisch sogar zwischenzeitlich meine Regenhose, aber das Wetter hält. Schottland überrascht.
Nach 10 von heute insgesamt 24,3 zurückzulegenden Kilometern, erreichen wir den Gipfel. Wenn die Aussicht bisher schon toll war, kann ich sie hier im Grunde nur noch als atemberaubend beschreiben. Klare Sicht in alle Himmelsrichtungen, während der Gipfel im Schatten liegt, sind die umliegenden Täler mit Sonnenlicht geflutet. Wir verweilen kurz, tanken Flüssigkeit, Kohlenhydrate und Zucker. Selfies gehören natürlich auch dazu.

»Don’t worry about finding the path – just go down!«
Für den Abstieg hat uns der zweite von heute nur zwei entgegenkommende Menschen den Tipp gegeben, nicht nach einem Weg zu suchen, sondern unseren Weg zu nehmen. Es ist steil, doch möglich und so gehen wir miteinander, aber an unterschiedlichen Stellen langsam nach unten. Die hohen Gräser und manch Hügel teilen uns dann aber doch und so kommt auch erst Stück für Stück an, dass es eine Verletzte gibt…
»Samsi, it’s over«
L. zu Samson, nachdem sie umgeknickt ist
Die schöne Landschaft bringt Hürden mit sich. Erstaunlich viele haben wir selbst untrainiert problemlos überwunden. Nun trifft es ausgerechnet eine der sportlichsten von uns: L ist mit lautem Knacken umgeknickt. Alle sammeln sich um sie, der Knöchel wird von Schuh und Strumpf befreit und abwechselnd mit L’s blassem Gesicht abgeglichen. Was jetzt? Tourabbruch? Wie bestellt man eigentlich einen Helikopter? Wie war die Nummer der Bergwacht? Haben wir überhaupt Netz? Ausgerechnet die Verletzte behält einen klaren Kopf und sagt, dass sich in den nächsten 15 Minuten zeigen wird, ob und wenn ja wie der Knöchel anschwillt. Ich starte einen Timer auf meiner Uhr. Samson versorgt sie mit einer Decke und J stellt fest, dass niemand Mobilfunkempfang hat. Wäre das schonmal geklärt. Bleiben noch zwei neue iPhones mit Notruf SOS via Satellit; das wollte ich ja immer schon mal unter realen Bedingungen testen. Aber doch nicht heute. Während wir warten, vorsorglich Schmerzsalbe und Medikamente anwenden, nutzen alle Unverletzten die unverhoffte Pause zum Essen. So werden zumindest die Rucksäcke leichter. Es ist klar, der Weg zurück ist zu diesem Zeitpunkt kürzer als weiterzugehen. Eine Straße haben wir vom Kamm aus gesehen, ein Abstieg dorthin ist auch irgendwie möglich. Doch die zurückliegenden zwei Kilometer sind steinig, unwegsam und schon im Vollbesitz der Kräfte eine ordentliche Kraxelei. Noch ist sowieso unklar, ob L überhaupt weiter kann, egal in welche Richtung. Wir verteilen ein bisschen Last aus ihrem Rucksack auf und ich übernehmen ohne zu zögern den Rest. Mit Mullbinden aus dem Erste-Hilfe-Kit wird der allmählich geschwollene Knöchel bestmöglich gestützt und L greift nach ihren Wanderstöcken. Zaghaft tritt sie auf, humpelt, geht, stöckelt voran. Ich mit Rucksack an Bauch und Rücken und fünf andere, gespannte Köpfe hinterher. L ist hart im Nehmen und geht einige Meter, bis wir uns erneut sammeln. Krisensitzung im Stehen.
L ist sich unsicher, ob es klug ist weiter zu gehen. Ich fühle mich unsicher darin umzukehren. Wir diskutieren. Hier geht es nicht um die Tour de Bier, hier entscheidet nicht Mut und Masse. Wir müssen uns für Gesundheit, Sicherheit und Machbarkeit entscheiden.
Erneut wird auf die Karte und in die Landschaft geguckt. Blicke schweifen ins Tal und zurück zum Gipfel. Kundschafter J testet den weiteren Weg aus und vermeldet, dass es besser wird. Zähne zusammenbeißend entscheidet sich L für das Zusammenbleiben der Gruppe und den weiteren Abstieg. Ist das eine gute Entscheidung? Ich weiß es nicht, niemand aus der Gruppe weiß es in diesem Moment. Mit zwei Stöcken, Schmerzmittel von innen, außen und eisernem Willen geht es weiter.




Um 14:30 Uhr sind wir wieder unterwegs. Mehrere Gründe haben für Verspätung in unserem Tagesplan gesorgt. Ich sorge mich um unseren Transfer zum Abend hin. Zwischen 17 und 19 Uhr sind wir in Arnisdale angekündigt, um mit einem Boot über das Loch Hourn abzukürzen. Ist das noch zu schaffen? Auch hier kennt niemand die Antwort und mehr als Weitergehen ist im Moment nicht möglich. Selbst mit zwei Rucksäcken bin ich in gutem Tempo unterwegs, L ist blass, wird aber flotter als ich nach einem solchen Zwischenfall erwartet hätte. Schmerz und Adrenalin sind eine gefährliche Mischung, kommen uns aber gerade zugute.
Die Steigung nimmt ab, Pfützen nehmen zu und das Wetter hält trotz manch dunkler Wolke am Horizont. Bei der nächsten Pause wird L erneut umsorgt und wir helfen alle mit, die Vorräte zu minimieren. Weniger Gewicht auf dem Rücken, mehr auf den Rippen ist das Motto. Arian pusht uns mit zwei überraschend aus dem Rucksack gezauberten Bierdosen – ein Schluck kühler Zaubertrank für alle die wollen. Nach zwanzig Minuten geht es weiter. Auch mit lädierter L kommen wir gut voran. Sie ist krass und auf dem besser werdenden Pfad führt sie die Gruppe bereits wieder. Das spornt an. Die zwei übrigen Wanderstöcke haben hier und da auch die Hände gewechselt. Wer sich vorher noch darüber amüsiert hat, schätzt die Unterstützung und Festigkeit beim Treten nun sehr. Von Mücken und Midges bleiben wir weiterhin verschont und die gekauften Netze sind zumindest am ersten Tag der Wanderung nicht im Einsatz. So laufen wir durch und nur einzelne aus der Gruppe bleiben kurz stehen, um sich oder die Landschaft, hin und wieder auch beides zusammen zu fotografieren.






Als wir um 17 Uhr noch zwei Stunden von Arnisdale und unserem Kapitän entfernt sind, eine weitere Krisensitzung. Wir wissen nicht, wie weit wir unser gebuchtes Zeitfenster ausreizen können und das Boot ist die einzige Option heute noch unsere Unterkunft zu erreichen. Das Boot, auf das wohl nur drei Passagiere plus Kapitän Fletcher passen. Ist es realistisch, dass wir uns aufteilen und ein schnelleres Grüppchen vorne weg läuft? Ortwin und ich stellen uns bereit, sind damit aber eine Person zu wenig. Der weitere Weg macht auch schnell klar, dass selbst mit mehr Kondition und Kräften ein „schneller“ kaum möglich ist. Es geht erneut auf und ab, diesmal zwar auf besseren Wegen aber es ist ob der vielen, oft losen Steine keine Option zu hetzen. Ich finde mich mit dem unwohlen Gefühl im Bauch ab, nichts tun zu können. Laufen, gehen, gucken, laufen, stehen, weitergehen, Schulterblick – alle da? Eins bis sechs – wunderbar. Müsliriegel gehend kauen, Berg hinauf, nach vorne schauen, und dann mal ganz unverhohlen, eine Nacktschnecke rechts überholen.
Nachdem wir Kühe gesehen und ein erstes Viehgatter passiert haben, zeichnt sich in der Ferne Zivilisation ab. In Arnisdale angekommen, suchen wir das Haus von Peter Fletcher. Schwimmwesten am Zaun weisen uns den Weg. Wir werden direkt freundlich begrüßt, Peter hat uns vom Schreibtisch aus kommen sehen. Er stattet uns mit hoffentlich nicht notwendigen Schwimmwesten aus und entschuldigt sich noch einen Moment, er habe gerade Abendessen im Ofen. Wir nutzen die Wartezeit und laufen zurück zum Pier, an dem er uns abholen will. Keine 20 Minute später legt er mit seinem Bötchen an und vier von uns sieben gehen samt Rucksäcken an Bord. Ja, vier. Sein prüfender Blick auf unsere Gruppe hat den Transport vereinfacht und auch unser handliches Reisegepäck ermöglicht es uns in zwei, statt drei Runden zu transportieren.



Gruppe eins, bestehend aus L, Arian, J und mir, geht an Bord. Mit den Rucksäcken findet gerade jeder müde Wanderpopo noch einen Platz. Peter Fletcher ist nun nicht mehr nur Kapitän, sondern auch Naturführer. Er berichtet von besonderen Vögeln und den Tieren im Meer, wobei er auch Delfine erwähnt. Moment mal, Delfine? Haben wir richtig gehört »look over there!«, dort springen sie aus dem Wasser und es wirkt wie im Film. Ich bringe nur noch »amazing« hervor und staune mit den anderen im Chor. Mister Fletcher erzählt wie viele Delfine sich hier oft sammeln, sein Boot begleiten und wie viel Spaß die Tiere haben. Das merken auch wir. Nur wenige Meter neben und vor uns tauchen die grauen Flossen auf dem Wasser auf und drehen sich spielerisch unter Wasser. An schönen Tagen und bei ruhigem Wasser könne man sie auch vom Boot aus unter sich sehen, sagt der Käptn. Vor kurzem war ein Wal in der Bucht, ein kleiner, nur etwa doppelt so lang wie sein Boot, erzählt er weiter. Ob wir schon einmal Robben gesehen haben, will er dann wissen. Robben? Diese Reise wird immer absurder. Vor ein paar Stunden standen wir noch in den schottischen Highlands und wussten nicht, ob es vor oder zurück geht, jetzt sollen wir Robben sehen? Dann tauchen sie schon auf und recken vergnügt die Köpfe in unsere Richtung. Große Robben, kleine Robben und sogar Babyrobben beim Schwimmunterricht begaffen wir beim vorbeischaukeln. Es fühlt sich surreal an, niemand hat damit heute noch gerechnet.






Peter Fletcher setzt uns in Barisdale ab, wir realisieren erst dort, dass es zum Ziel noch einmal über einen Kilometer Fußmarsch sind. Realitätsflucht ins Tierreich hat gut funktioniert. Doch die Beine funktionieren noch und wollen wie Kopf und andere Körperteile gerne schnell ins Bett.


Also traben wir und schaffen es bis 21 Uhr anzukommen. Später als geplant, kaputter als gedacht aber wenigstens vollständig. Also fast – Gruppe 2 ist hinter uns.
Unsere Unterkunft duftet kurze Zeit später nach der großen Portion Spaghetti die J zubereitet hat. Auch die zweite Portion Bootsgäste trudelt ein, sie hatten ebenfalls Freude mit Peter Fletcher und wurde nicht enttäuscht. Gemeinsam erfreuen wir uns an den mangels Salz etwas faden aber dennoch köstlichen Kohlenhydraten die mit rotem oder grünen Pesto und wahlweise Cheddarf und Dosenfisch verfeinert werden. Nacheinander gehen wir duschen und fallen alle sehr erschöpft in Betten, Couch, auf den Boden oder die Isomatte. Unsere Unterkunft ist für vier Menschen ausgelegt, zu siebt muss eben etwas improvisiert werden. Morgen steht immerhin noch ein zweiter Wandertag an, der uns bis ins The Old Forge bringen soll. Ob das klappt wie geplant?










Die besseren Fotos in diesem Beitrag stammen vom großartigen Jonas Samson. Mister Peter Fletcher kann für Überfahrten und Touren gebucht werden.
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