Ich wache mit schmerzendem Rücken auf. Die zwei Rucksäcke gestern rächen sich nun wohl doch. Das E-Book liegt neben mir, daneben schnarchelt Ortwin und zum Aufstehen ist es auch noch zu früh. Während ich mich literarisch zwischen Edinburgh, London und Rom bewege, beginne ich mich im Liegen etwas zu dehnen. Was haben wir da gestern nur gemacht? Der erste Teil unserer Strecke war anstrengender und gefährlicher als gedacht. Ich weiß nicht, wo wir heute lägen, wenn das Wetter nicht so gut mitgespielt hätte. Heute müssen wir weiter. „Wir“ meint in dem Fall nicht mehr die ganze Gruppe. L hat sich gestern Abend noch eine Mitfahrgelegenheit organisiert und ist zu früher Stunde bereits auf dem Rückweg in der Zivilisation. Auto, Boot, Auto, Bus, grundlegende medizinische Versorgung, Zug und Fähre und wir sehen uns hoffentlich heute Abend im Pub wieder. So sind es nur noch sechs Leute, die aufstehen, frühstücken und wieder alles in ihre Rucksäcke stopfen müssen.
»Diese 11 Stunden Schlaf haben den zweiten Tag erst möglich gemacht«
Ortwin nach zehn Stunden Schlaf
Als ich die anderen wecke, ist es draußen grau, wenige Minuten später setzt Regen ein. Heute wird es unangenehmer. Vor uns liegt eine kürzere Etappe, das ächzen und humpeln verheißt zu diesem Zeitpunkt aber nicht unbedingt schnelles vorankommen. Die heutige Zielzeit ist unsere Reservierung im Pub um 19 Uhr. Bevor wir los stiefeln, um die letzte Etappe zum The Old Forge Pub zu nehmen, geht die Giftmischabteilung ans Werk und päppelt die Gruppe auf: Wärmende Salben und schmerzstillende Pillen werden getauscht – alles für ein Bier im abgelegenen Pub. Was für ein Plan.
Um 10:30 Uhr steht Papagenortwin bereit und fünf andere Paar Wanderschuhe ordnen sich ein. »Ich konnte gestern nicht mal mehr gerade zur Herberge laufen«, sagt Ortwin. Dafür steht und geht er ganz vorzüglich. Auch Samson, M, J, Arian und ich spüren unsere Körper. Am Ziel wartet Bier und das treibt an, also hinauf!
Der Nieselregen kommt und geht. Unter den Regensachen wird es wärmer als gedacht. Also noch einmal anhalten und Schichtwechsel. Wenig später zeigt Schottland seine wahre Wetterseite und wir schlüpfen alle zurück in die imprägnierte Funktionskleidung. Aufstieg im Regen, Stimmung im Tal. Zwischen zu warm und zu kalt liegt nur ein Gipfelkamm. Hintereinander her stapfend höre ich unter der Kapuze nur noch den Wind und prasselnden Regen auf meiner Kapuze. Es ist meditativ, so zu stapfen. Auf befestigtem Wanderweg würde ich in meine Gedanken verfallen. Bergab aber braucht es hier Aufmerksamkeit. Wir wollen keinen weiteren Knöchel riskieren. Während wir uns nach vorn in den Wind lehnen können, hat L es in den Zug nach Malaig geschafft. Sie nimmt nun schon den Zug und die Fähre, die eigentlich erst für Freitag geplant sind. Wir freuen uns, dass einem gemeinsamen Bier heute Abend kaum noch etwas im Wege steht.
»Ich gehe vorsichtig vor« »Und ich unvorsichtig hinterher«
Samson und Ortwin
12:30 Uhr — eine weitere Bachüberquerung. Während der Regen die Wege schon verschlammt, werden die Bäche und Wasserfälle auch nicht kleiner. Wir weichen vom Weg, steige ein paar Meter ab und nehmen einen sichereren, weil kürzeren Weg über den kleinen reißenden Strom Bach.
Da. Ich erspähe Menschen vor uns. Kommen sie uns entgegen oder überrunden wir sie? Eine Vierergruppe bemüht sich wie wir darum, Schlammlöcher auszusparen und nicht auszurutschen. Doch wir sind schneller und überholen. »See you in the Pub«, ruft mir einer zu und ich nicke wohlwollend zurück »hopefully soon!«.
13 Uhr — alle Schuhe sind nass. Wenn sie es nicht eh schon waren, ist inzwischen Wasser von unten, seitlich und oben eingedrungen. Es schwappt unterschiedlich viel. J gewinnt das tiefste Eintunken — manche Schlammlöcher sind tiefer als andere. Weil wir alle nass und es dadurch auch nicht unbedingt warm ist, um 14 Uhr nur eine kurze Pause. Die übrigen Brote von heute Morgen und etwas Trailnahrung wird verschlungen. Der letzte Teil der Strecke zieht sich, aber das erste Viehgatter zeigt, dass wir uns Zivilisation nähern. Die letzten Kilometer wandern wir stumm und stur nebeneinander her.
15 Uhr — Inverie ist in Sichtweite, Willkommenstafel und zwanzig Minuten später ein Auto. Auf einer Straße. Auf Asphalt. Wahnsinn. Das Knoydart Bunkhouse wartet auf uns und wir auf Dusche + trockene Kleidung. Das Hostel ist auf nasse Menschen eingestellt und so landen erstmal alle Klamotten und Schuhe im Trockenraum. Dort riecht es zwar nach einer exquisiten Mischung aus Käsefuß, nassem Hund und Heizdecke, aber das stört nach diesem Tag niemand. Parallel beziehen wir Betten und uns um oder aus, duschen heiß und ruhen die Körper ein Weilchen aus. Das letzte Ziel ist noch etwa 1,3 Km entfernt. Um 17:30 Uhr erreichen wir dann nach fast 50 km Fußmarsch in den letzten zwei Tagen The Old Forge. Ziel erreicht. Dort sitzt seit fast drei Stunden schon L bereit und begrüßt uns freudig. Mit einer Knöchelbandage ausgestattet, hat sie unsere letzten Meter aus dem Pub verfolgt.
Inverie & The Old Forge Pub
The Old Forge pub at Inverie holds the Guinness World Record for the remotest pub in mainland Great Britain, being furthest from roads connected to the national network in time and journey distance
Inverie, an der schottischen Westküste gelegen, ist nur zu Fuß oder per Boot erreichbar. Der dortige Pub, früher eine Schmiede, wurde von den Einheimischen als Genossenschaft übernommen und wird seit 2023 so betrieben. Es gibt dorthin nicht nur den Weg, den wir uns gesucht haben. Ein klassischer Einstieg erfordert aber ein Auto oder teure Taxifahrt ins Nirgendwo. Für uns kam dieser Anfang nicht infrage, weshalb unser Weg auch überraschend schwer und unbefestigt war. Doch alle Leiden sind vergessen, als uns das erste Bier aus lokaler Brauerei serviert wird. Es schmeckt nicht allen, den Abend über gibt es noch genügend Möglichkeiten sich durch die anderen Zapfhähne zu probieren.
»Das Getränk macht lustig im Bauch«
Ortwin beim Rommee Spiel auf sein Bier guckend
Da wir vor unserer reservierten Zeit eingetroffen sind, beschließen wir nach Rücksprache mit der Küche unsere Bestellung zu splitten. Die Reservierung ist weniger eine Platz-, sondern Kapazitätsfrage der Küche. Unsere erste Bestellung nach der Runde Bier wird daher eine Vorspeise für alle. Dann gibt es eine Verdauungspause und später die Hauptspeise. So ein Abend im Pub will ja auch strukturiert sein.
Es muss auch noch diskutiert werden, welche Fähre wir morgen nach Mallaig nehmen. L berichtet uns von einem kleinen, schwankenden Boot. Größer wohl als das von gestern, aber klein genug, dass das morgige Wetter Auswirkungen auf den Fährbetrieb haben kann. Leider garantiert uns nur das erste Schiff des Tages einen guten Anschluss nach Edinburgh. Ausschlafen ist damit aber nicht drin. Da es aber die einzige Möglichkeit für einen letzten gemeinsamen Abend ist und potenzielle Ausfälle späterer Fähren auch die Abreise mancher Wanderer gefährden könnte, beißen wir in den sauren Apfel und stellen die Wecker auf 06:30 Uhr. Nun aber genug der Organisation. Wir spielen Rommee, bis wir von den Hauptgängen unterbrochen werden. Weiteres Bier, Nachspeisen und Whiskey runden den Abend ab. Ein einheimischer greift noch zur Geige. Zeit zu zahlen.
Nachdem ich den Fidelspieler noch zehn Pfund als Dank für seine Einlage im Pub in die Hand gedrückt habe, fährt er mit einem Pint in der Hand an uns vorbei. Am Steuer. Ach Schottland. Ab ins Bett. Die Fähre wartet morgen früh nicht auf uns.
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