Der Ortwin-Tag 2025
Im Jahr 2019 habe ich damit begonnen, meinem Mitbewohner Samson zum Geburtstag kein simples Geschenk, sondern einen ganzen Tag zu schenken. Dieses Vorgehen ist über die Jahre gewachsen und irgendwann zusammen mit Ortwin etwas eskaliert. Sogar ich bekam schon einen Tag und wusste nicht, wie mir geschah, aber immerhin hatten die beiden an meinen Reisepass gedacht – andere Geschichte!
Heute, am 21. Januar, trifft es Ortwin. Dieser Beitrag fasst den Ortwin-Tag 2025 zusammen. Ein Teil der Fotos stammt aus Samsons Linse – seine Bilder sehen besser aus, obwohl er gar nicht darauf zu sehen ist.
04:45 Uhr – Zu früh
Wir haben in den Geburtstag meines Mitbewohners Samson reingefeiert und ich habe keine drei Stunden geschlafen. Es fühlt sich allerdings an, als hätte ich gar nicht geschlafen. Samson ist schon wach und frisch geduscht. Er hat anscheinend beschlossen, von seinem Geburtstag so viel zu erleben wie nur irgendwie möglich und kocht Kaffee. Wir wollen gerade Ortwin wecken, der mit seiner Freundin im Wohnzimmer schläft, treffen ihn aber zufällig auf seinem Weg zur Toilette. „Wir müssen los, Ortwin!“, sage ich und es dauert erstaunlich lange, bis er begreift, was da gerade passiert. Seine größte Sorge ist die spontane Absage des Friseurtermins später am Tag. (Danke an Hairplanes für den schnellen Ersatztermin). 25 Minuten später stehen wir vor dem Haus und warten auf ein Vierrad das uns zum Bahnhof bringen soll.
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05:51 Uhr – Abfahrt
Es hätte eigentlich vom Hauptbahnhof losgehen sollen, doch die Zugverbindung wurde zwei Wochen vor Abfahrt für uns zum besseren geändert und startet heute vom Bahnhof Gesundbrunnen. Ortwin weiß zwar inzwischen, dass wir in einen Zug steigen, lässt sich aber noch verwirren indem wir ans Gleis des AirportExpress spazieren. Einsteigen tun wir aber in den EuroCity 41 nach Warschau. Ortwin freut sich schrittweise über einen Tag in Berlin-Lichtenberg und Frankfurt/Oder, bis wir ihm freudig berichten, dass es tatsächlich bis zur Endstation in Polen geht. Die kommenden 5 Stunden und 8 Minuten rollen wir wieder. Diesmal aber zu dritt.
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Fahrten in EuroCity Zügen bringen einen verpflichtenden Besuch im Bordrestaurant mit sich. Die Züge der Tschechischen und Ungarischen Bahn, die zwischen Hamburg und Prag verkehren, sind in unserer Dreier-Konstellation sehr beliebt. Die polnische Küche ist auch ein Grund dieser Reise. Grund genug, auf der Hinfahrt, bereits vorzukosten.
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11:07 Uhr – Zeit für Bildung
Leicht verspätet erreichen wir Warsaw Central und machen uns auf den Weg die Stadt zu erkunden. Da Ortwin von nichts wusste, hat er auch nichts planen können. Ungewohnt! Samson steuert daher mit uns das Museum Leben in der Volksrepublik Polen an. Da sich dort auch Einrichtungsgegenstände befinden, die Ortwin gefallen könnten, fällt der Besuch in den schmalen Grad der für ihn erträglichen Museen.
Wir lesen historische Fakten, sind beeindruckt von schöner, aber heute absurd wirkender Technik, dem Einrichtungsstil und setzen uns in ein altes Auto. Der Lehrfilm über den Kartoffelkäfer erinnert mich an viele Sommer, in denen ich in der uckermärkischen Heimat Käfer gesammelt und Larven zerdrückt habe. Als ich den Gedanken teile, merke ich, dass meine Begleiter mir dabei beide schon helfen durften. Apathisch starren sie ins Nichts.
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13:00 Uhr – Zeit für Milch
Im Anschluss besuchen wir eine der wenigen noch in Betrieb befindlichen Milchbars, auch „Bar Mleczny“ genannt. Diese boten ursprünglich günstige vegetarische Gerichte auf Milchbasis an und wurden während der sozialistischen Ära (1944–1989) staatlich subventioniert. Die kantinenartigen Gaststätten waren eine wichtige und erschwingliche Nahrungsquelle. Überstanden haben in ganz Polen nur noch etwa 140 Milchbars. Heute bieten sie traditionelle polnische Gerichte wie Pierogi oder Bigos zu niedrigen Preisen an. In der von uns besuchten Bar Bambino probieren wir neben Mehlsuppe mit verschiedenen Einlagen die Pierogi und ein bisschen Salat. Mit besserer Vorbereitung hätten wir sicher noch mehr lesen können für uns gefunden. Die Vorgehensweise, am Eingang aus dem Stand heraus zu bestellen, überfordert etwas, wenn einem das Konzept bisher nicht bekannt ist.
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13:45 Uhr – Ausblick vom Kulturpalast
Von der Milchbar stiefeln wir zum großen, ja geradezu hohen Kulturpalast der Stadt. Samson ist Multitasker: Während er sich mit den Füßen fortbewegt, klickt er mit der einen Hand Tickets für die Aussichtsplattform und raucht mit der anderen. Da Ortwin und ich orientierungsloser, wenig hilfreicher Ballast sind, dauert es, bis wir den richtigen Eingang zum Aussichtsplattformfahrstuhl gefunden haben. Dieser bringt uns in beeindruckender Geschwindigkeit nach oben und legt noch eine gratis Ladung Druck auf den Ohren bei.
Warschau ist heute nebelig und die Aussicht nicht allzu weit. Wir genießen dennoch die Sicht von allen vier Seiten der Terrasse. Da wir weder ein Liebesschloss noch Edding oder Aufkleber zum Verewigen dabeihaben, beschließen wir unverrichteter Dinge wieder den Weg nach unten anzutreten. Ich hätte gern die Treppen genommen, wir finden aber wieder nur den Fahrstuhl und gelangen in der Lobby des Hauses zu einem Café mit Tee, Kakao und Kuchen. Damit vergnügen wir uns, bis wir um 15 Uhr in unsere Unterkunft kommen.
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1 Lamm braten
15:10 Uhr – Mittagsschlaf
Reisen macht nicht nur hungrig, es kann auch ermüdend sein. Insbesondere mit einem Schlafdefizit ist ein Mittagsschlaf empfehlenswert und den gönnen wir uns nun. Unsere Unterkunft für eine Nacht ist eine schöne Wohnung in der Nähe der Warschauer Oper. Ein eigenes Schlafzimmer für jeden – wir werden schließlich nicht jünger, zwei Drittel von uns sogar während dieser Reise ein Jahr älter. Nach drei Stunden Erholung genießen wir einen tollen Ausblick auf die Warschauer Skyline. Die Stadt hat weniger als halb so viele Einwohner wie Berlin, ist aber deutlich höher gebaut. Wir planen Abendessen und Anschlussbeschäftigung, dann spazieren wir durch den nahe gelegenen Park Richtung Restauracja Kameralna.
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21:00 Uhr – Hoch hinaus
Mit vollen Mägen und Vorfreude auf Ortwins Geburtstag – bis Mitternacht müssen wir wohl oder übel noch durchhalten – machen wir uns auf den Weg zu THE ROOF. Hier soll es neben Aussicht auch gute Drinks geben und nichts anderes schaffen wir an diesem Abend noch. Von unserem anfangs zugewiesenen Platz sehen wir allerdings nur mäßig gut. Wir beschließen, extrem viel zu trinken, um dem Barpersonal zwei Stunden später einen Anreiz zu bieten, an einen besseren, möglichst direkt am Fenster gelegenen Platz zu wechseln. Sechs Drinks später hat es funktioniert und wir können pünktlich um Mitternacht Ortwin in seinem 33. Lebensjahr willkommen heißen. Anschließend stützen wir uns gegenseitig auf dem Heimweg und fallen in den tiefen Schlaf der drei Handlungsreisenden.
Anm.: Sie, liebe Lesende, werden sich nun sicher fragen „welche Handlung?“. Hierzu sei angemerkt, dass die Stadt Warschau gar nicht existiert - wir uns folglich die gesamte Handlung dieser Reise ausdenken mussten und das ist sehr anstrengend. Insofern gönnen Sie uns doch bitte die zehn Stunden Schlaf und lesen Sie bei Langeweile ein anderes gutes Buch.
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Tag 2
09:30 Uhr – Frühort
Ich stehe auf und stelle fest, ich bin allein damit. So kann ich ausgiebig das Bad nutzen, bevor die anderen beiden es wollen. Ich packe meine Sachen und wecke vorsichtig Ortwin. Nach einem weiteren Ständchen und vielen Glückwünschen akzeptiert er schließlich aufstehen zu müssen und auch Samson steht in ganzer Pracht orientierungslos im Flur. Ich stelle sie beide in die Dusche, wasche sie mit Hochdruck ab und föhne sie trocken. Um elf Uhr müssen wir die Wohnung verlassen. Da ich versehentlich das Wasser kurzzeitig auf kalt gedreht habe, sind beide nun ansatzweise wach und können sich selbstständig anziehen. Bereits im Aufzug nach unten nimmt Ortwin die ersten Glückwunschtelefonat an. Ich schnappe folgendes Zitat auf:
»Ich bin gestern um 4:50 aus dem Bett geworfen
worden und ab dann war ich unterwegs«
Ortwin
11:08 Uhr – Altstadtspazier-Gang
In den Wintermonaten wird in Warschau Grünkohl in den Blumenkübeln kultiviert. An vielen Stellen sehen wir die Pflanze auf unserem Weg in die Altstadt. Warschaus Altstadt ist gar nicht so alt, denn sie wurde nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg zwischen 1949 und 1955 originalgetreu rekonstruiert. Seit 1980 trägt sie den Titel UNESCO-Weltkulturerbe. Wir spazieren auf der Stadtmauer, am Königsschloss vorbei und durch enge Gassen, bis wir wieder hungrig genug sind, ruhigen Gewissens in ein Restaurant einkehren zu können.
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13:23 Uhr – ÖPNV Touristen
Kaum zu glauben, doch wir haben auf dieser Reise bisher die Metro nicht benutzt. Zeit, das zu ändern und wie gut, dass sie uns zum letzten Programmpunkt dieser Reise bringen wird. Wir nutzen die Straßenbahn für zwei Stationen und müssen feststellen, dass die in der Tram erworbenen Tickets nicht für die Metro gelten. 80 Cent später hat jeder von uns ein neues Ticket und wir stehen auf der Rolltreppe nach unten. Die Metro ist modern und flott. Sie besteht lediglich aus zwei Linien: Die blaue verläuft von Nord (Młociny) nach Süd (Kabaty) mit 21 Stationen über 23 km. Sie wurde 1995 eröffnet und ist die ältere der beiden. Die rote Linie verbindet Osten und Westen mit aktuell 18 Stationen auf etwa 19 km. Die Linie wurde 2015 eröffnet und wird weiter ausgebaut.
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13:45 Uhr – Wir lieben Flipper, Flipper … 🎶
Neben zahlreichen anderen Qualitäten beherrscht mein Mitbewohner Samson die Fähigkeit zu lesen und recherchieren. Die Kombination beider Qualifikationen bringt uns nun an den letzten Punkt der Reise vor Abreise: Interactive Museum of Pinball „Pinball Station“
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Die Flipperhalle umfasst so viele Geräte, dass ich mich fragen muss, ob diese Haltungsform noch artgerecht ist. Es gibt beeindruckend alte und erstaunlich neue Geräte und zusätzlich zum mechanischen Spaß auch noch Arcade-Maschinen mit Spielen der letzten Jahrzehnte. Wir haben viel Spaß, spielen allein oder gegeneinander und die Zeit vergeht viel zu schnell. Wir müssen aufbrechen, um rechtzeitig den Zug zurück zu besteigen. Vorher durchstreifen wir noch zwei Supermärkte auf der Suche nach einem Haselnussschnaps, der wie flüssige Nutella schmecken soll.
16:50 Uhr – Rückfahrt
Fündig geworden steigen wir in den EC zurück nach Berlin-Gesundbrunnen und schlafen erst einmal alle ein wenig. Dann steht natürlich auch auf dieser Strecke der obligatorische Besuch im Speisewagen an. Wir teilen uns drei Hauptgerichte, beanspruchen aber jeder ein Bier für sich. Was für eine schöne Reise. Fünf Sterne, gerne wieder – Abfahrt dürfte aber auch später sein.
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